Alan Gratz: Vor uns das Meer

„Wir wollten unsere Heimat nicht verlassen! Wir sind Flüchtlinge! Wir brauchen Hilfe!“

Drei Jugendliche, getrennt durch die Zeit, verbunden durch ein gemeinsames Schicksal: die Flucht aus ihrer Heimat vor Krieg, Hunger, Antisemitismus.
Deutschland 1939: Joseph flieht mit seinen Eltern und seiner Schwester vor den Nazis. In der Hoffnung auf ein freies Leben reist die Familie auf der St. Louis nach Havanna, Kuba. Das gleiche Land in einem anderen Jahr. 1994 fliehen Isabel, ihr Vater, ihre hochschwangere Mutter, ihr Großvater und die Familie ihres besten Freundes auf einem selbstgebauten Kahn vor Fidel Castro. Ihr Ziel? El norte, Amerika. Das Land in dem sie nie mehr hungern müssen.
Im Jahr 2015 herrscht seit vier Jahren Bürgerkrieg in Syrien. Mahmoud, seine Eltern, sein Bruder Walid und seine Schwester Hana fliehen vor Assad, den Rebellen und dem IS. Sie wollen nach Deutschland, um dort einfach in Frieden leben zu können.

Wie heißt es immer so schön? Zu Hause ist kein Ort, sondern zu Hause sind die Menschen, die man liebt. Doch ist das wirklich so? Was ist, wenn man gezwungen wird sein zu Hause, also den Ort, an dem man aufgewachsen ist, zu verlassen. Was, wenn man in seinem Heimatland um sein Leben kämpfen muss, und die einzige Möglichkeit zu überleben ist zu fliehen? Und was ist, wenn man in seinem „neuen“ zu Hause ankommt und es manche Familienmitglieder nicht geschafft haben? Kann dieser Ort dann jemals ein zu Hause werden?
Alan Gratz hat mir mit Vor uns das Meer deutlich vor Augen geführt, dass ich das niemals herausfinden möchte. Joseph, Isabel und Mahmoud erleben im wahrsten Sinne des Wortes Höllentrips, die niemand jemals erfahren sollte. Doch – und das macht die Geschichte deutlich – Menschen haben es erlebt, erleben es in diesem Moment, und werden es wahrscheinlich auch in Zukunft noch erleben (müssen).


Die drei einzelnen Geschichten werden parallel erzählt, obwohl sie zu jeweils anderen Zeitpunkten spielen. Die Handlung beginnt mit Josephs Perspektive, wechselt dann zu Isabel und schließlich zu Mahmoud. Das entspricht nicht nur der chronologischen Reihenfolge, sondern dient auch einem tiefergehenden Zweck, der am Ende für einige Überraschungen sorgt. Außerdem werden so die Gemeinsamkeiten hervorgehoben, die jede Flucht charakterisieren. Unter der ständigen Angst erwischt und zurückgeschickt zu werden oder sogar sein Leben zu verlieren, ist die gefährliche Reise geprägt von Momenten der Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, und Trauer. Alan Gratz beschreibt diese Achterbahn der Gefühle sehr realistisch, aber nicht belehrend, emotional, aber nicht schnulzig. Er hat genau die richtige Mischung gefunden, sodass sich beim Lesen die Bilder im Kopf formen und ich mir die Szenerie genau vorstellen konnte.
Auch die Darstellung der Charaktere verleiht der Geschichte ihre Authentizität. Ich möchte auf zwei der Personen eingehen, deren Verhalten auf erschütternde Art und Weise zeigt, welche psychischen Schäden Krieg und der Mensch selbst hervorrufen können. Da wäre zuerst einmal Josephs Vater, Aaron, der in ein Konzentrationslager eingeliefert wurde. Die Gräueltaten und Folterungen, die er da erleben musste, nahmen ihm seine Menschlichkeit und machten ihn zu einem psychischen Wrack. Hinter jeder Ecke, hinter jeder Tat vermutet er eine Falle der Nazis, um ihn und seine Familie zurück ins KZ zu schicken. Er ist so besessen von dieser Idee, dass er den Bezug zur Realität verliert und sich schließlich versucht umzubringen.
Und dann ist da noch Walid, Mahmouds jüngeren Bruder, der völlig apathisch und emotionslos wirkt. Der ganze Terror scheint einfach an ihm abzuprallen, das ist echt beängstigend. Zu der authentischen Gestaltung der Geschichte und der Charaktere kommt die Einordnung in die wahre Historie und die gute Recherche. Gratz betont zwar, dass die Personen erdacht sind, ihre Geschichten aber auf wahren Schicksalen beruhen. Das Nachwort liefert zusätzliche Fakten zu den politischen Ereignissen, was ich sehr interessant finde. Außerdem werden die Fluchtwege im hinteren Teil des Buches aufgezeichnet.

Ich finde Vor uns das Meer ist ein grandioses Buch, das Einblicke in das Phänomen Flucht gewährt und verständlich gezeigt welche Torturen Flüchtlinge erleiden. Mir hat es klar gemacht, wie glücklich ich sein kann in einem Land geboren worden zu sein, in dem seit 75 Jahren Frieden und Freiheit herrscht. Und dass ich dafür sehr dankbar sein sollte. Es hat meinen Blickwinkel bezüglich des Themas verändert und mich belehrt, dass die meisten Flüchtlinge aus purer Not heraus ihre Heimat verlassen. Und die Tatsache, dass Kuba für Josef Ziel seiner Flucht ist, für Isabel dagegen der Ausgangspunkt, dass Berlin für Joseph seine alte Heimat ist und für Mahmoud zur neuen Heimat wird, zeigt, dass es jeden treffen kann, unabhängig von Land, Hautfarbe, Religion oder was auch immer gerade als abstruser Grund herhalten muss.

Kendra

übersetzt aus dem Englischen von Meritxell Janina Piel
Hanser Verlag
ab 12 Jahren
304 Seiten
ISBN 978-3-446-26613-1
17,00 €